Das alte Paradigma von Vorausplanen und Steuern der Umsetzung (Predict & Control) geht immer häufiger an der Wirklichkeit vorbei. Vor allem in komplexen Marktumfeldern sind evolutionäre Vorgehensweisen  ihren statischen Pendants signifikant überlegen. Die Hauptidee: Das Ziel fest im Blick, planen wir immer nur den nächsten Schritt. Fehler liefern hilfreiches Feedback und führen zur Optimierung des Vorgehens „in Echtzeit“.

 

In seinem bahnbrechenden Buch „Reinventing Organizations“ schreibt Frederic Laloux über den überaus erfolgreichen französischen Kfz-Zulieferer FAVI. Dort benutzt man gerne eine Metapher, um zu erklären, wie das Unternehmen gesteuert wird:

„ Die traditionelle Praxis in Organisationen, sagt FAVI, ist fünf Jahre voraus zu schauen und Pläne für ein Jahr zu machen. FAVI glaubt, wir sollten wie Farmer denken: Schaue 20 Jahre voraus und plane nur für den nächsten Tag. Man muss weit voraus schauen, um zu entscheiden, welche Obstbäume gepflanzt oder welche Getreidearten gesät werden sollen. Aber es macht keinen Sinn, zu Jahresbeginn das exakte Datum für die Ernte zu planen. Wir können uns noch so anstrengen, es wird uns nicht gelingen, das Wetter, das Wachstum oder auch nur den Ackerboden zu kontrollieren; sie alle haben ein Eigenleben, das sich unserem Einfluss entzieht. Ein Farmer der rigide auf Vorplanung setzt, anstatt die Realität wahrzunehmen und sich darauf einzustellen, würde schnell am Hungertuch nagen.“

Was bedeutet das für Organisationen? In den meisten Unternehmen werden Pläne entwickelt, die auf Hypothesen über die Entwicklung des Umfeldes beruhen. (Kundenbedürfnisse, Wettbewerb, politischer/ gesellschaftliche Entwicklungen etc.). Die meiste Zeit verbringt man in der Regel damit, diesem Plan zu folgen und seine Erfüllung zu überwachen. Diese Vorgehensweise bezeichnet man gemeinhin als „Predict & Control“ und sie funktioniert in kalkulierbaren, nicht komplexen Umfeldern auch außerordentlich gut.

Allerdings versagt sie komplett, wenn wir uns in nicht berechenbare Kontexte begeben, was heutzutage eher die Regel, als die Ausnahme ist: Kundenbedürfnisse entstehen und wandeln sich in teils atemberaubenden Geschwindigkeiten (die Blackberrys, Nokias und Kodaks dieser Welt können eine Lied davon singen). Politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und technische Rahmenbedingungen vollziehen Kehrtwendungen, die noch vor wenigen Jahren für undenkbar gehalten wurden (Energiewende, Eurokrise, Social Media, Cloud, um nur einige zu nennen). All das führt dazu, dass die Auswirkungen unseres Handelns so vielfältig sein können, dass sie nicht mehr sinnvoll vorhersagbar sind. Es käme ein wenig dem Versuch gleich, eine Autofahrt im Vorhinein planen zu wollen: Wann soll Gas gegeben, wann gebremst werden, zu welchem Zeitpunkt der Blinker gesetzt werden usw.

 

Dynamische Steuerung: „Sense & Response“

So abstrus diese Analogie wirkt, so offenbar zeigt sie aber auch den Ausweg aus der Situation: Wenn wir Auto fahren, wissen wir normalerweise, wohin wir wollen. Wir planen aber nicht vom Ziel rückwärts jede einzelne Aktion, die wir dann umsetzen. Wir machen uns noch nicht einmal Gedanken, ob wir an der nächsten Ampel Bremsen oder Gas geben müssen. Wir tun einfach das, was gerade ansteht und achten darauf, was um uns herum geschieht. Dabei verlieren wir selbstverständlich nie das Ziel unserer Fahrt aus den Augen.

In diesem simplen Beispiel finden sich alle Faktoren wieder, die wir für die dynamische Steuerung eine Organisation in komplexen Umfeldern benötigen:

  • Suche nicht nach der besten Entscheidung (um das einschätzen zu können, müsstest du die Zukunft vorhersagen können) sondern triff eine Entscheidung, die ausreicht, um weiterzuarbeiten. In einer unberechenbaren Welt ist oft die schneller getroffene Entscheidung die bessere.
  • Beharre nicht auf einer einmal getroffenen Entscheidung. Sobald neue Informationen vorliegen, kann es Sinn machen, eine neue Entscheidung zu treffen, die besser passt, als die vorherige (z.B. ein Spurwechsel)
  • Triff nur Entscheidungen, für Themen die jetzt anstehen (nicht erst an der nächsten Ampel)

Diese permanente Interaktion von Agieren, Wahrnehmen der Auswirkungen, und wieder darauf zu (re)agieren nennen wir „Sense & Response“: Das Steuern aus einem Bewusstsein, verankert im gegenwärtigen Moment und daraus die Zukunft in jedem Moment in Richtung auf das Ziel hin zu gestalten.

 

Dynamische Steuerung in Organisationen

Jetzt mag es verhältnismäßig klar sein, wie das jeder für sich allein tun kann. Um dies in einer Organisation umzusetzen bedarf es jedoch einer Struktur und Prozessarchitektur, die das Wahrnehmen (Sense) und das Reagieren (Response) über viele Menschen und Teams hinweg orchestriert.

Zur Veranschaulichung ein Beispiel:

Angenommen, Sie arbeiten in einem Großhandel für Büroartikel. Sie sind im Marketing und eine Ihrer Verantwortlichkeiten ist es, die Website auf dem neuesten Stand zu halten. Ihnen sind bereits diverse Kundenbeschwerden zugetragen worden, so dass Sie sich zu einer kompletten Neugestaltung der Online Präsenz des Unternehmens entschlossen haben. Was aber soll sich darin wiederfinden? Möchten Ihre Kunden online bestellen, oder ist das weniger wichtig? Brauchen sie vielleicht sogar Zugriff auf ihre Auftragshistorie? Und welche Social Media Integrationen machen Sinn?

Erschlagen von der Vielzahl der Möglichkeiten überlegen Sie sich, was der erste Schritt wäre. „Nun“, denken Sie sich, „zunächst einmal wäre es sehr hilfreich zu wissen, was für unsere Kunden wirklich wichtig ist.“ Allerdings haben Sie so gut wie keinen Kundenkontakt, den aber hat der Vertrieb. Sie entscheiden sich also, dieses Thema in das anstehende operative Meeting einzubringen (was das genau ist, finden Sie hier). Dort erläutern Sie Ihr Anliegen und bitten den anwesenden Vertriebskollegen seine Kunden dahingehend zu befragen. Dieser erkennt, dass eine State-of-the-Art Webpräsenz auch in seinem Sinne wäre und übernimmt das Projekt. Drei Wochen später präsentiert Ihnen Ihr Kollege, dass für die meisten Kunden Online-Bestellung und Auftragshistorie von großem Nutzen wären, eine Social Media Integration dagegen zur Zeit kaum relevant ist. Aber die Möglichkeit vom Smartphone aus bestellen zu können, wäre wiederum sehr hilfreich. Mit diesen für Sie unschätzbar wichtigen Informationen können Sie nun mit Ihrem Großprojekt „Online-Präsenz“ fortfahren.

Ihr Projekt hätte möglicherweise entweder eine völlig andere Richtung genommen, oder – was noch öfter passiert – wäre nie in Gang gekommen, wenn Sie sich zu Beginn nicht auf den gerade jetzt wichtigen nächsten Schritt konzentriert hätten. Bitte beachten Sie: Sie haben im Meeting nur dasjenige Anliegen vorgebracht, das Sie in diesem Moment zum Weitermachen benötigten. Dazu benötigten Sie die Mitarbeit Ihres Kollegen und eine organisationale Praxis, in der Sie dieses Thema adressiert konnten; hier das regelmäßig stattfindende Operative Meeting. Auch für Veränderungen an der Organisation selbst gibt es eine Praxis, das sogenannte Steuerungsmeeting. Möglicherweise drängt es sich für Sie ja im weiteren Projektverlauf auf, eine komplett neue Rolle namens „Website Manager“ mit entsprechenden Verantwortlichkeiten zu schaffen. Sollte das der Fall sein (und erst dann), bringen Sie ihr Anliegen einfach dort zur Klärung ein (Mehr dazu unter Effektive Meetings).

 

Wann „Predict und Control“ hilfreich ist

Zum Schluss soll hier doch noch eine Lanze für die „Predict & Control“ Methode gebrochen werden: Wie schon weiter oben angedeutet eignet sich diese Methode hervorragend für kalkulierbare Umfelder. Beispielsweise ist ein klassisches Projektmanagement bei wiederkehrenden und in der Ausführung sehr ähnlichen Abläufen geradezu unverzichtbar. Der Bau eines Hauses, die Planung einer großen Firmenfeier oder die Installation einer neuen IT Umgebung gehören z.B. in diese Kategorie.

Darüber hinaus gibt es auch Kontexte, in denen eine gewisse Voraussage deshalb nötig ist, weil wir uns auf lange Zeit binden und später nicht mehr neu entscheiden können. Beispielsweise ein zehnjähriger Mietvertrag für Büroräume oder der Kauf einer großen und teuren Maschine. Doch auch hier sollten wir versuchen, uns stets das größtmögliche Maß an Flexibilität und Reaktionsfähigkeit zu bewahren, das uns so viel dynamische Steuerung wie möglich erlaubt.

 

5 Schritte für Dynamische Steuerung über „Sense & Response“:

  • Was ist das Ziel/ der Zweck deines Tuns?
  • Was ist der erste/ nächste (sinnlich wahrnehmbare) Schritt in diese Richtung?
  • Was brauchst du dafür von wem?
  • Triff/ Trefft eine Entscheidung und setze/ setzt um
  • Was ist das Ergebnis? (zurück zu 1))

Unternehmen, die nach Holacracy® arbeiten, haben „Sense & Response“ bereits tief in ihr organisationales Betriebssystem integriert. Alle Strukturen und steuernden Prozesse sind daraufhin ausgerichtet. Insbesondere in Vertrieb, Marketing und Produktentwicklung beschleunigt dies die Abläufe erheblich. Mehr dazu hier.